IV
Das Geläut der großen Glocke kündete davon, daß die Eröffnung der Synode unmittelbar bevorstand. Wenigstens, überlegte Schwester Fidelma, hatten sich beide Seiten auf das griechische Wort synodos als Bezeichnung für dieses Treffen christlicher Würdenträger einigen können. Die Synode von Streoneshalh versprach, eine der wichtigsten Versammlungen in der Geschichte der Kirchen von Iona und Rom zu werden.
Schwester Fidelma nahm ihren Platz im sacrarium ein, dem größten Raum der Abtei, in dem die Debatte stattfinden sollte. Es herrschte lautes Stimmengewirr, denn alle Teilnehmer der Versammlung sprachen durcheinander. Das gewaltige sacrarium mit den hohen Steinwänden und der wuchtigen Gewölbedecke verstärkte die Geräusche durch ein dumpfes Echo. Doch trotz der Weitläufigkeit fühlte Fidelma sich seltsam beengt beim Anblick der zahllosen Menschen, die sich auf den dunklen Eichenbänken zusammendrängten. Auf der linken Seite hatten sich all jene versammelt, die den Regeln Columbans folgten, auf der rechten Seite saßen die Anhänger Roms.
Etwas weiter vorne hatten die kirchlichen Würdenträger Platz genommen. Fidelma hatte noch nie so viele von ihnen an einem Ort gesehen. Ihre prächtige Kleidung aus wertvollen Stoffen wies sie als Edelmänner aus, die aus den verschiedensten Königreichen Britanniens hier zusammengekommen waren.
«Eindrucksvoll, nicht wahr?»
Fidelma schaute auf und sah Bruder Taran, der sich auf dem freien Platz neben ihr niederließ. Innerlich stöhnte sie auf. Sie hatte gehofft, dem selbstgefälligen Bruder aus dem Weg gehen zu können. Nach der langen Reise von Iona hatte sie nun genug von seiner Gesellschaft.
«Seit der großen Versammlung in Tara im letzten Jahr habe ich keine so eindrucksvolle Zusammenkunft mehr gesehen», erwiderte sie kühl, als er sie fragte, was sie von dem Schauspiel halte. Ebenso eindrucksvoll, fügte sie im stillen hinzu, waren aber auch die üblen Gerüche, die das sacrarium trotz der vorsorglich aufgestellten Räuchergefäße durchdrangen. Um die Körperpflege der Ordensbrüder und -schwestern in Northumbrien war es traurig bestellt, dachte Fidelma tadelnd. Ganz anders war dies in Irland, wo sie täglich badeten und an jedem neunten Tag gemeinsam das tigh 'n alluis, das Schwitzhaus, besuchten. Dort brachte ein Torffeuer sie kräftig in Schweiß, ehe sie in kaltes Wasser tauchten und sich anschließend mit Tüchern warm rieben.
Wieder ertappte sie sich bei dem Gedanken an den sächsischen Mönch, den sie am Vorabend getroffen hatte. Er hatte reinlich gerochen, ja, Fidelma glaubte sogar, den schwachen Duft von Kräutern wahrgenommen zu haben. Wenigstens einer der Sachsen wußte also, wie man sich sauberhält. Fidelma rümpfte mißbilligend die Nase, während sie sich umsah und insgeheim fragte, ob sie den Mönch in den Reihen der Römer entdecken würde.
Plötzlich tauchte Schwester Gwid auf und schlüpfte auf der anderen Seite neben Fidelma in die Bank. Wie immer war ihr Gesicht gerötet, und sie keuchte atemlos, als wäre sie schnell gelaufen.
«Fast hättet Ihr die Eröffnung der Synode verpaßt», sagte Fidelma lächelnd, während das schlaksige Mädchen verlegen nach Atem rang. «Aber solltet Ihr nicht bei Äbtissin Étain sitzen und ihr als Sekretärin zur Seite stehen?»
Schwester Gwid schüttelte den Kopf.
«Sie sagte, sie würde mich rufen lassen, wenn sie mich braucht», entgegnete sie.
Fidelma sah nach vorn zur Stirnseite des sacrarium. In der Mitte stand ein Podest mit einem reichverzierten, leeren Stuhl, der auf König Oswiu zu warten schien. Die dicht dahinter stehenden, kleineren Stühle waren bereits von Männern und Frauen besetzt, deren prächtige Kleidung von Reichtum und Einfluß kündete.
Fidelma fiel ein, daß Bruder Taran sich trotz seiner Schwächen als nützlich erweisen könnte, denn vermutlich wußte er bestens über all diese Leute Bescheid. Schließlich war dies schon seine zweite Mission nach Northumbrien, und er hatte sich stets als Kenner des Landes gerühmt.
«Nichts einfacher als das», antwortete er erwartungsgemäß, als sie auf die Menschen rund um den königlichen Thron deutete und ihn um eine Erklärung bat. «Sie alle gehören zu Oswius engster Familie. Die Dame, die jetzt gerade Platz nimmt, ist die Königin.»
Fidelma betrachtete die Frau, die mit strenger Miene auf dem Stuhl neben dem Thron Haltung einnahm. Ihr Name war Eanflaed, wie Taran ihr bereitwillig mitteilte. Eanflaeds Vater war ein früherer König von Northumbrien gewesen, aber ihre Mutter war eine Prinzessin von Kent. Eanflaed war als kleines Mädchen nach Kent gebracht und dort nach der römischen Lehre erzogen worden. Gleich hinter ihr saß ihr persönlicher Kaplan, Romanus aus Kent, der den Anordnungen Roms strikt Folge leistete und kaum einmal von ihrer Seite wich. Er war ein kleiner, dunkler Mann mit schwarzem, lockigem Haar und einem seltsam verschlagenen Gesicht. Außerdem hatte er eng zusammenstehende Augen und schmale Lippen. Gerüchten zufolge, sagte Taran, habe Eanflaed mit Romanus’ Unterstützung König Oswiu so lange zugesetzt, bis dieser sich schließlich gezwungen sah, eine Versammlung einzuberufen und eine Entscheidung zu treffen.
Eanflaed war Oswius dritte Frau, und er hatte sie kurz nach seiner Thronbesteigung vor etwa zwanzig Jahren geheiratet. Seine erste Frau war Rhiainfellt gewesen, eine Prinzessin aus Rheged, wo man den Lehren und Regeln der Kirche von Iona folgte. Nach Rhiainfellts Tod wurde Fín, Tochter von Colmán Rimid, dem Hochkönig von Irland, Oswius zweite Frau.
Fidelma war erstaunt. Von Oswius Verbindung zum Hochkönig hatte sie nichts gewußt.
«Ist Oswius zweite Frau ebenfalls gestorben?» fragte sie.
Diesmal war es Schwester Gwid, die ihr antwortete.
«Oswiu und Fín wurden geschieden», sagte sie, nicht ohne Genugtuung. «Fín erkannte immer deutlicher, wie sehr sie Northumbrien und Oswiu haßte. Oswiu und sie hatten einen Sohn namens Aldfrith, den sie mit zurück nach Irland nahm. Er wurde in dem von Comgall, dem Freund Columcilles, gegründeten Kloster in Bangor erzogen. Heute ist er ein berühmter Dichter, der unter dem Namen Flann Fína Verse in irischer Sprache verfaßt. Was den Thron von Northumbrien betrifft, hat Aldfrith auf alle Ansprüche verzichtet.»
Schwester Fidelma schüttelte den Kopf.
«Wie ich gehört habe, gibt es bei den Sachsen die unsinnige Regel, daß der erstgeborene Sohn immer auch der Erbe ist. Ist dieser Aldfrith denn der Erstgeborene?»
Schwester Gwid zuckte mit den Schultern, doch Taran zeigte auf das Podium. «Seht Ihr den jungen Mann, der gleich hinter Eanflaed sitzt, der mit den blonden Haaren und der Narbe im Gesicht?»
Fidelma sah ihn und fragte sich, warum sie sogleich eine tiefe Abneigung gegen den jungen Mann verspürte.
«Das ist Alhfrith, Oswius Sohn von Rhiainfellt, seiner ersten Frau, der jetzt als Unterkönig in der südlichen Provinz Deira regiert. Vielleicht erinnert Ihr Euch, wir haben gestern erst von ihm gesprochen. Es heißt, daß er ein Anhänger Roms ist und gegen die Verbindung seines Vaters zu Iona aufbegehrt. Er hat die Mönche, die sich zu den Lehren Columcilles bekannten, aus Ripon vertrieben und das Kloster seinem Freund Wilfrid übergeben.»
«Und Wulfric von Frihop ist seine rechte Hand», murmelte Fidelma. Alhfrith wirkte mißmutig und ungebärdig. Allein die anmaßende Art, wie er sich auf seinem Stuhl flegelte, erregte Fidelmas Widerwillen.
Die finster dreinblickende Frau neben Alhfrith war offenbar seine Frau Cyneburh, die noch immer verbitterte Tochter des Königs Penda von Mercia, der in der Schlacht von Oswiu getötet worden war. Neben ihr saß mit ebenso verdrießlichem Gesicht Alhflaed, die Schwester Alhfriths, die Peada, den Sohn Pendas von Mercia, geehelicht hatte. Er habe gehört, erklärte ihr Taran aufgeregt, daß Alhfrith für Peadas Ermordung verantwortlich sei. Kurz vor seinem Tod habe Peada zugestimmt, Oswiu den Treueeid zu schwören und Unterkönig von Mercia zu werden, aber Alhfrith habe ebenfalls ein begehrliches Auge auf das Königtum Mercia geworfen.
Neben Oswius jetziger Frau Eanflaed saß deren erstgeborener Sohn, Ecgfrith. Mit seinen achtzehn Jahren war er ein mürrischer, grüblerischer junger Mann. Seine dunklen Augen schweiften rastlos durch den Raum, und er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Taran sagte, Ecgfrith habe es sich zum Ziel gesetzt, Oswius Thron zu besteigen, und sei von Neid gegen seinen älteren Halbbruder Alhfrith erfüllt, der nach dem Gesetz Thronerbe war. Außer Alhfrith und Ecgfrith war von Oswius Kindern nur noch Aelflaed zugegen. Sie war in dem Jahr zur Welt gekommen, als Oswiu seinen großen Sieg über Penda errungen hatte. Ihre Eltern brachten sie Gott als Dankopfer dar und übergaben sie Äbtissin Hilda, die sie in Streoneshalh als eine dem Herrn geweihte Jungfrau aufziehen sollte.
Bruder Taran erzählte Fidelma, daß Oswiu zwei weitere Kinder hatte – Osthryth, eine fünf Jahre alte Tochter, und Aelfwine, einen drei Jahre alten Sohn. Diese Kinder waren aber noch zu klein, um bei der Versammlung anwesend zu sein.
Schwester Fidelma unterbrach Tarans unermüdlichen Redefluß.
«Sehr viel mehr werde ich mir wohl auf einmal nicht merken können. Während der Debatte werde ich bestimmt noch mehr über die Anwesenden erfahren. Ich bin nur erstaunt, wie viele Menschen hier sind.»
Bruder Taran nickte selbstgefällig.
«Es ist eine wichtige Versammlung, Schwester. Nicht nur das Königshaus von Northumbrien ist anwesend. Domangart von Dál Riada und Drust, der König der Pikten, sind ebenfalls gekommen. Zahlreiche andere Könige haben Prinzen und Abgesandte geschickt: Cenwealh von Wessex, Eorcenbreht von Kent, Wolfhere von Mercia und …»
«Genug!» wehrte Fidelma ab. «All diese fremden sächsischen Namen werde ich sowieso nie behalten. Ich werde Euch fragen, wenn ich noch etwas wissen will.»
Einen Augenblick saß Fidelma schweigend da und ließ ihre Blicke über das Meer von Gesichtern schweifen. Dann öffnete sich die große Tür, und ein Mann mit einer großen Fahne trat herein. Wie Taran ihr sogleich zuflüsterte, war dies thuff, die Standarte des Königs, die ihm stets vorausgetragen wurde. Und dann kam auch schon ein hochgewachsener und muskulöser, gutaussehender Mann mit flachsblondem Haar und langem Schnurrbart herein. Er trug prächtig geschmückte Kleider und einen goldenen Reif auf dem Kopf.
Und so erblickte Fidelma zum ersten Mal Oswiu, den König von Northumbrien. Oswiu hatte den Thron bestiegen, nachdem sein Bruder Oswald von Penda mit seinen Verbündeten in Maserfeld erschlagen worden war. Innerhalb weniger Jahre hatte Oswiu seinen Bruder gerächt und Penda und seine Gefolgsleute getötet. Inzwischen wurde er als Bretwalda gefeiert, ein Titel, der ihn, wie Taran ihr erklärte, zum Führer aller Königreiche der Angeln und Sachsen erhob.
Neugierig betrachtete Fidelma den hochgewachsenen Mann, dessen Vorgeschichte sie aus Erzählungen kannte. Als Kinder waren er und seine Geschwister aus Northumbrien vertrieben worden, nachdem Edwin ihren Vater ermordet und den Thron an sich gerissen hatte.
Die verbannten Königskinder waren im Königreich Dal Riada aufgewachsen und auf der heiligen Insel Iona zum Christentum bekehrt worden. Als Oswald, Oswius älterer Bruder, den Thron zurückeroberte und seine Geschwister aus dem Exil holte, sandte er auch nach Iona und bat darum, Missionare nach Northumbrien zu schicken, die sein Volk vom Heidentum abbringen und im Lesen und Schreiben unterrichten könnten. Fidelma war daher immer ganz selbstverständlich davon ausgegangen, daß König Oswiu für Iona Partei ergriff.
Aber sie wußte auch, daß Oswiu in dieser Debatte zwar das letzte Wort hatte, dabei aber unter dem Druck seiner Erben und der zahlreichen Abgesandten anderer Könige stand, die auf sein Urteil Einfluß nahmen.
In der kleinen Prozession, die Oswiu auf dem Weg zu seinem Thron an der Stirnseite des sacrarium begleitete, folgte als erster Colmán als Oswius Bischof und wichtigster Abt seines Königreichs. Dann kamen Hilda und eine andere Frau, deren Gesichtszüge stark an Oswiu erinnerten.
«Das ist Abbe, Oswius älteste Schwester», flüsterte Taran. «Sie war in Iona im Exil und ist eine überzeugte Verfechterin von Columcilles Liturgie. Abbe ist Äbtissin des nördlich von hier gelegenen Klosters Coldingham, eines Doppelhauses, in dem Männer und Frauen gemeinsam ihr Leben Christus weihen können.»
«Nach allem, was ich gehört habe, hat es einen ziemlich zweifelhaften Ruf», raunte Gwid ihr von der anderen Seite zu. «Es heißt, die Nonnen und Mönche in der Abtei seien allzusehr dem Feiern, Trinken und anderen weltlichen Genüssen zugetan.»
Schwester Fidelma antwortete nicht. Es gab viele conhospitae oder Doppelhäuser, und daran war nichts auszusetzen. Ihr mißfiel die Art, in der Schwester Gwid anzudeuten schien, daß diese Lebensform etwas Verwerfliches an sich hätte. Sie wußte, daß einige Asketen die Doppelhäuser verdammten und die Ansicht vertraten, jeder, der sein Leben in den Dienst Gottes stelle, müsse auch enthaltsam leben. Ja, man hatte ihr erzählt, einige dieser Asketen würden sogar wie Bruder und Schwester zusammenleben, um dadurch die Stärke ihres Glaubens und die übernatürliche Kraft der Keuschheit unter Beweis zu stellen – ein Gebaren, gegen das Johannes Chrysostom von Antioch mit aller Macht zu Felde gezogen war.
Fidelma hatte nichts gegen religiöse Gemeinschaften von Männern und Frauen einzuwenden. Sie teilte die Auffassung, daß Geistliche heiraten und Kinder haben sollten, mit der überwältigenden Mehrheit aller Gläubigen, nicht nur in der irischen, sondern auch in der römischen und sogar in der östlichen Kirche. Nur Asketen glaubten an den Zölibat und forderten die Trennung der Geschlechter. Daß Schwester Gwid ähnliche Ansichten zu vertreten schien, überraschte Fidelma. Sie selbst ging davon aus, daß irgendwann auch sie jemanden finden würde, mit dem sie ihr Leben und ihre Arbeit teilen konnte. Doch gab es keinen Grund zur Eile, und bisher war sie auch noch keinem Mann begegnet, der sie so gefesselt hätte, daß eine Entscheidung notwendig gewesen wäre. Vielleicht würde es auch nie zu einer solchen Entscheidung kommen. Das Leben ließ sich nicht vorausplanen. Auf gewisse Weise beneidete sie ihre Freundin Étain um die Gewißheit, mit der sie sich zu einer zweiten Heirat und zum Verzicht auf Kildare entschlossen hatte.
Hinter Äbtissin Abbe ging ein älterer Mann, dessen gelbliches Gesicht vor Schweiß glänzte. Er stützte sich auf den Arm eines jüngeren Mannes, dessen Gesicht Fidelma trotz seiner engelhaften, rosigen Rundlichkeit sofort wölfisch erschien. Mit seinen eng zusammenstehenden Augen blickte er wachsam um sich, als würde er überall Feinde wittern. Der alte Mann war offensichtlich krank. Fidelma wandte sich zu Taran um.
«Deusdedit, der Erzbischof von Canterbury, und Wighard, sein Sekretär», sagte Taran, ehe sie ihre Frage ausgesprochen hatte. «Sie stehen an der Spitze der römischen Delegation.»
«Und der Greis, der als letzter hereingekommen ist?»
Sie deutete auf einen alten Mann, der auf den ersten Blick wie ein Hundertjähriger wirkte. Sein Rücken war gebeugt, und sein Körper war so faltig und hager, daß er aussah wie ein wandelndes Skelett.
«Das ist der Mann, den es keine Mühe kosten würde, die Sachsen gegen uns aufzuwiegeln», erklärte Taran.
Fidelma zog die Augenbrauen hoch.
«Wilfrid? Ich hatte ihn mir jünger vorgestellt.»
Taran schüttelte den Kopf.
«Nein, nicht Wilfrid. Das ist Jakobus, von den Sachsen James genannt. Als Rom vor über sechzig Jahren Augustinus’ Mission in Kent verstärken wollte, wurde eine Gruppe von Missionaren ausgeschickt, die von einem Mann namens Paulinus angeführt wurde. Zu dieser Gruppe gehörte auch Jakobus – er muß also heute mehr als achtzig Jahre alt sein. Als Edwin von Northumbrien und Aethelburh von Kent, die Mutter unserer heutigen Königin Eanflaed, heirateten, begleitete Paulinus sie als ihr persönlicher Kaplan. Doch sein Versuch, die Northumbrier zum römischen Glauben zu bekehren, blieb ohne Erfolg. Er floh mit Aethelburh und der kleinen Eanflaed zurück nach Kent, wo er vor zwanzig Jahren bei einem Aufstand der Heiden ums Leben kam.»
«Und Jakobus?» fragte Fidelma. «Ist er auch geflohen?»
«Nein, er ist in Catraeth geblieben, das die Sachsen Catterick nennen. Zeitweise hat er als Einsiedler, dann wieder als Missionar gelebt. Aber ich zweifele nicht daran, daß unsere Gegner ihn als lebenden Beweis dafür vorführen werden, daß Rom lange vor Iona versucht hat, Northumbrien zu missionieren, und daher die älteren Rechte hat. Sein ehrwürdiges Alter und die Tatsache, daß er ein Römer ist, der sowohl Paulinus als auch Augustinus noch persönlich kannte, fällt stark gegen uns ins Gewicht.»
Trotz aller Vorbehalte gegen Bruder Taran konnte Fidelma nicht umhin, sich von seinem Wissen beeindruckt zu zeigen.
Die kleine Prozession hatte inzwischen das Podest an der Stirnseite des großen Raumes erreicht, und Äbtissin Hilda forderte die Menge mit einer Handbewegung auf, sich von den Plätzen zu erheben.
Bischof Colmán trat vor und machte das Zeichen des Kreuzes. Dann hob er die Hand und gab der Versammlung seinen Segen. Er tat dies im Stil der Kirche Ionas, indem er mit Zeigefinger, Ringfinger und kleinem Finger die Dreieinigkeit andeutete, anstatt nach römischer Sitte Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger zu heben. Unter den Anhängern Roms erhob sich daraufhin empörtes Gemurmel, das Colmán jedoch geflissentlich überhörte, um dann auf griechisch – der Sprache, in der die Kirche Ionas ihre Gottesdienste abhielt – den Segen Gottes zu erbitten.
Dann wurde Deusdedit nach vorne geführt. Mit schwacher Stimme, die seine Gebrechlichkeit noch unterstrich, erteilte er den Segen nach römischer Sitte auf lateinisch.
Äbtissin Hilda bedeutete allen Anwesenden, auf ihren Bänken und Stühlen Platz zu nehmen.
«Brüder und Schwestern in Jesus Christus, möge nun unsere Debatte um den rechten Glauben beginnen. Soll die Kirche von Northumbrien den Lehren der Kirche Ionas folgen, die uns aus der Dunkelheit zum Licht Christi führte? Oder soll sie sich zur Kirche Roms bekennen, die das Licht am Anfang in alle nahen und fernen Teile der Welt getragen hat? Die Entscheidung liegt in Euren Händen.»
Sie wandte sich nach rechts.
«Als erstes wollen wir die Eröffnungsreden hören. Agilbert von Wessex, seid Ihr bereit, für Eure Kirche zu sprechen?»
«Nein!» erwiderte eine krächzende Stimme. Die Versammelten hielten erstaunt den Atem an, dann erhob sich allgemeines Gemurmel.
Mit einer Handbewegung mahnte Äbtissin Hilda zur Ruhe.
Ein schlanker, dunkelhäutiger Mann mit einem schmalen, adlernasigen Gesicht erhob sich von seinem Platz.
«Agilbert ist Franke», flüsterte Taran. «Er hat lange Zeit in Irland studiert.»
«Vor vielen Jahren», begann Agilbert in einem schleppenden Sächsisch mit starkem Akzent, das Fidelma nur dank Bruder Tarans Übersetzung verstand, «berief Cenwealh von Wessex mich zum Bischof in seinem Königreich. Zehn Jahre lang habe ich dieses Amt ausgefüllt, bis Cenwealh sich auf einmal unzufrieden zeigte und behauptete, ich würde seinen sächsischen Dialekt nicht gut genug beherrschen. Er ernannte Wine zum Bischof, und ich habe sein Land verlassen. Nun werde ich gebeten, hier für die römische Lehre zu streiten. Wenn ich aber mit meiner Redeweise Cenwealh und die Westsachsen nicht zufriedenstellen kann, sehe ich mich auch nicht in der Lage, hier für meine Kirche zu sprechen. Mein Schüler Wilfrid von Ripon wird daher die Debatte für Rom eröffnen.»
Fidelma runzelte die Stirn.
«Dieser Franke scheint recht empfindlich zu sein.»
«Ich habe gehört, er sei auf dem Heimweg nach Frankreich, weil er sich inzwischen mit allen Sachsen überworfen hat.»
Ein kleiner, stämmiger Mann mit rotem Gesicht und einer schroffen, herausfordernden Art erhob sich neben ihm.
«Ich, Wilfrid von Ripon, bin bereit, unsere einleitenden Argumente vorzutragen.»
Äbtissin Hilda nickte zustimmend und wandte sich dann der anderen Seite zu.
«Und was ist mit Iona? Ist Äbtissin Étain von Kildare zur Eröffnungsrede bereit?»
Es gab keine Antwort.
Fidelma reckte den Hals. Erst jetzt fiel ihr auf, daß sie Étain noch gar nicht im sacrarium gesehen hatte. Wieder erhob sich allgemeines Gemurmel.
Äbtissin Abbes Stimme klang seltsam hohl, als sie verkündete: «Die Äbtissin von Kildare weilt offenbar nicht unter uns.»
In diesem Augenblick schwang eine der großen Türen auf. Atemlos und mit aschfahlem Gesicht erschien ein Glaubensbruder auf der Schwelle.
«Unheil!» rief er mit hoher, sich überschlagender Stimme. «Brüder und Schwestern, ein großes Unheil kommt über uns!»
Äbtissin Hilda funkelte den Mann zornig an.
«Bruder Agatho! Ihr vergeßt Euch!»
Der Mönch eilte nach vorn. Selbst von ihrem Platz aus konnte Fidelma die panische Angst in seinem Gesicht erkennen.
«Schaut aus den Fenstern und seht Euch die Sonne an. Gott ist dabei, sie mit eigener Hand am Himmel auszulöschen … Die Welt verdunkelt sich. Domine dirige nos! Das muß ein Zeichen sein. Ein böser Fluch liegt über dieser Versammlung.»
Bruder Taran übersetzte Fidelma seine hastig auf sächsisch hervorgestoßenen Worte, die alle Anwesenden in Aufruhr versetzten. Viele von ihnen sprangen auf und eilten zu den Fenstern.
Es war der düstere Agilbert, der sich zu denen umwandte, die auf ihren Plätzen sitzen geblieben waren.
«Bruder Agatho hat recht. Das Licht der Sonne ist verloschen. Das kann nur ein Zeichen drohenden Unheils sein.»